Weiter gedacht - der Podcast der WZ

#22 Behinderungen: Die „besondere" Spezies

Episode Summary

Sie wurden systematisch erfasst, sterilisiert und ermordet: Menschen mit Behinderungen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus als „unwertes Leben” betrachtet. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 hörte diese Stigmatisierung nicht auf: Bis in die 1990er-Jahre waren Patient:innen in der Psychiatrie „Am Steinhof” ohne Beschäftigung oder regelmäßige Freigänge eingeschlossen. Und selbst heute leben viele noch separiert. Das ist wohl mit ein Grund, warum Menschen ohne Behinderungen bei einer Begegnung meist unsicher und betreten reagieren. Was Politik und Gesellschaft dazu beitragen und was man endlich ändern müsste, dazu fragt WZ-Redakteurin und Host Petra Tempfer ihren Studio-Gast, die neue Behindertenanwältin Christine Steger.

Episode Notes

Fast 18 Prozent der Menschen in Österreich, das sind 1,6 Millionen, leben mit einer Behinderung. Diese sollten doch eigentlich sichtbarer sein – sie sind aber nahezu unsichtbar. Es beginne bereits im Sonderkindergarten, setze sich in der Sonderschule fort, um schließlich in einer Behindertenwerkstätte zu enden, sagt die neue Behindertenanwältin Christine Steger zu WZ-Redakteurin Petra Tempfer. „Der Weg in die Behindertenhilfe ist gepflastert mit Sonderschulsteinen.” Die Folge: Menschen mit Behinderungen leben in einer Sonderrealität, und deren Leben findet nicht inmitten der Gesellschaft statt, „sondern woanders”, was zum Beispiel den Zugang zu Bildung und Arbeit betrifft. 

Der Einsatz für Arbeit war die einzige Daseinsberechtigung in der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich (1933 bis 1945), sagt Steger. Für Menschen, die das nicht zu 100 Prozent erfüllen konnten, war kein Platz. Und selbst heute noch wird klar zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen unterschieden, wenn es um deren Daseinsberechtigung geht: Laut einer Regelung aus dem Strafgesetzbuch von Mitte der 1970er ist ein Schwangerschaftsabbruch bis unmittelbar vor der Geburt straflos, falls ein Organscreening während der Schwangerschaft ergibt, dass „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein wird”. Ansonsten ist dieser nur innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate erlaubt. 

Ein Vorreiterland, wo es besser funktioniert, wo Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam und nach ihren Bedürfnissen leben können, sei Südtirol, so Steger. Dort wurde die Sonderschule bereits in den 70ern abgeschafft.

Weiterführende Links:

Aus dem Archiv der Wiener Zeitung vom 9. Juni 1845:

Blickt man hunderte Jahre zurück, war von Barrierefreiheit noch gar keine Rede. Ganz im Gegenteil: Menschen mit Behinderungen wurden als „Cretins“ bezeichnet – der Cretinismus sei „das schrecklichste der menschlichen Leiden“, schrieb die Wiener Zeitung am 9. Juni 1845 (Seiten 3 und 4). Als erfolgreiche Errungenschaft wird allerdings im selben Artikel über die erste sogenannte „Cretinen-Anstalt“ Europas auf dem Abendberg im Berner Oberland folgendermaßen berichtet:

Das Baden, besonders elektrisch-magnetische, dann auch Staub-, Dusche und gewöhnliche Bäder, werden mit gutem Erfolge angewendet; eine zweckmäßige, geregelte Wahl der Nahrungsmittel, Sorge für Reinlichkeit, innere und äußere Anwendung der entsprechenden Medikamente, gymnastische Übungen zur Beförderung der Stärkung und Gewandtheit der Muskulatur sind vereint, um die Ebenbürtigkeit dieser verlassenen Waisen der Natur gegen ihre glücklicheren, aber oft gefühllosen Mitbrüder zu beweisen und sie körperlich und geistig in den Kreis bürgerlicher Brauchbarkeit einzuführen. Wohl erkennt und fühlt die Anstalt die Schwierigkeit der Lösung ihrer Aufgabe, aber sie findet Trost und Ermunterung darin, dass ihr durch Gottes Segen in der kurzen Zeit ihres Bestehens die Freude schon zu Teil geworden ist, mehrere Kinder, die körperlich und geistig völlig verkrüppelt waren und als hoffnungslos betrachtet wurden, vollständig geheilt entlassen zu können.

UN-Behindertenrechtskonvention (Sozialministerium)

Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (Rechtsinformationssystem des Bundes)

Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs laut § 97 Strafgesetzbuch (Rechtsinformationssystem des Bundes)

Tätigkeitsbericht Behindertenanwaltschaft 2022

Österreichischer Behindertenrat

Der 2003 eröffnete Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim umfasst neben der Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasie auch die Ausstellung „Wert des Lebens".

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