Weiter gedacht - der Podcast der WZ

#23 Sex, Grusel, Spaß und Versmaß

Episode Summary

Als du das Vögeln lerntest, lehrt ich dich / So vögeln, daß du mich dabei vergaßest / und deine Lust von meinem Teller aßest / Als liebtest du die Liebe und nicht mich: Dass Gedichte alles andere als langweilig sind und auch niemals waren, sondern erotisch, gruselig, grotesk, emotional oder einfach nur witzig sein können, das analysiert der Kultur-Experte und WZ-Redakteur Edwin Baumgartner im Gespräch mit Host und WZ-Redakteurin Petra Tempfer. Gedichte verstecken geschickt die intimsten Botschaften – wie etwa Sexszenen in der Bibel.

Episode Notes

An Gedichten ist viel mehr dran als das bloße Reimen von Wörtern. Sie waren vielmehr schon immer ein Weg, Tabu-Themen vor den Vorhang zu holen und anzusprechen – wie zum Beispiel Sexualität. So steht schon in der Bibel das Paradebeispiel für ein erotisches Gedicht, sagt der Kultur-Experte und WZ-Redakteur Edwin Baumgartner zu WZ-Redakteurin Petra Tempfer: Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, / bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, / in die Kammer derer, die mich geboren hat. / Bei den Gazellen und Hirschen der Flur / beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, / weckt sie nicht, / bis es ihr selbst gefällt.

Nach Johann Wolfgang von Goethe, der 1832 starb, dichteten dann fast alle über Erotik und Liebe, sagt Edwin Baumgartner. Es kann aber auch extrem blutrünstig und brutal werden, etwa, wenn es um die Menschenfresser des österreichischen Dichters H. C. Artmann aus dem vorigen Jahrhundert geht. Oder witzig und gleichzeitig politisch kritisch, wie Erich Frieds Freie Wahl mit guten Vorsätzen.

Übrigens: Dichterinnen waren die Ersten, die die Lyrik von Anbeginn an bereichert haben, so wie Sappho aus dem 7. Jahrhundert vor Christus. Sapphos Gedichte reimen sich nicht immer. Der Reim sei auch keine Verpflichtung für ein Gedicht, sagt Edwin Baumgartner, der jede:n auffordert, es selbst mit dem Dichten zu versuchen und das eigene Gedicht an edwin.baumgartner@wienerzeitung.at zu schicken. Ein Tipp: Singen oder rappen hilft dabei.

Weiterführende Links:

Aus dem Archiv der Wiener Zeitung vom 24. Juli 1849 (Seite 18): 

Zwei Jahrhunderte nach Hoffmannswaldaus Tod erregte sich die Wiener Zeitung über einen weiteren Trend, der sich offenbar unter mehreren Dichtern breit gemacht hatte: die Verschwendung, die Überladung mit edlen Metallen und Kostbarkeiten, wie die Wiener Zeitung am 24. Juli 1849 auf Seite 18 schrieb. Und weiter: Eines ähnlichen und noch schlimmeren Fehlers machte sich in Deutschland die zweite schlesische Schule, besonders Hoffmannswaldau und Lohenstein, schuldig; denn sie waren nicht bloß verschwenderisch mit Gold und Edelsteinen, sondern sie waren schwülstig und sogar schmutzig. Sie waren angesteckt durch die damaligen italienischen Dichter.  

Ein Haiku stammt aus Japan, ist ungefähr 500 Jahre alt und gilt dort als klassische Gedichtform. Es entwickelte sich aus einer ursprünglichen Kettendichtung, die 36-gliedrig aufgebaut ist. Ein Haiku ist kürzer. Insgesamt besteht es aus höchstens 17 Silben, die sich in drei Zeilen beispielsweise so aufteilen können: 1. Zeile = 5 Silben, 2. Zeile = 7 Silben, 3. Zeile = 5 Silben. Das japanische Haiku setzt sich oft mit der Beschreibung der Natur auseinander. Es charakterisiert das Ereignis einer Beobachtung und steht immer in der Gegenwart (Präsens). Dabei soll es ein Gefühl erwecken, das sich nur dem Augenblick widmet. Diese Gedichtform enthält zumeist Unausgesprochenes zwischen den Zeilen, das der Leser selbst erkennen soll (Lernwerkstatt für Deutsch).

Gedichte erkennt man daran, dass sie in Versen oder Strophen aufgebaut sind. Ein weiteres Merkmal ist die sprachliche Ausgestaltung des Inhalts: Gedanken, Gefühle und Erlebnisse sollen so durch die sprachliche Form besser zum Ausdruck gebracht werden. Dafür nutzen Dichter:innen zum Beispiel verschiedene Metren, Reimschemata oder bildliche Sprache. Das Lyrische Ich führt dann durch das Gedicht (Studyflix).

Zitierte Gedichte: 

Die Üste hat die freie Wahl: / Wenn sie ein W wählt, bleibt sie kahl. / Wählt sie ein K, so wird sie nass. / Die freie Wahl macht keinen Spaß (Freie Wahl mit guten Vorsätzen, Erich Fried, österreichischer Dichter, 1921–1988)

Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. / Wißt ihr / weshalb? / Das Mondkalb / verriet es mir im Stillen: / Das raffinier- / te Tier / tat's um des Reimes willen. (Das ästhetische Wiesel, Gedichtband, Christian Morgenstern, deutscher Dichter, 1871–1914) 

Fußball (Joachim Ringelnatz, deutscher Schriftsteller, 1883–1934)

Hallo, süße Kleine, / komm mit mir ins Reine! / Hier im Reinen ist es schön, / viel schöner als im Schmutz zu stehen, / Hier gibt es lauter reine Sachen, / die können wir jetzt schmutzig machen. / Schmutz kann man nicht beschmutzen, / laß uns die Reinheit nutzen. / Sie derart zu verdrecken, / das Bettchen und die Decken. Die Laken und die Kissen, / daß alles Leute wissen: / Wir haben alles vollgesaut / und sind jetzt Bräutigam und Braut. (Ermunterung, gesammelte Gedichte, Robert Gernhardt, deutscher Schriftsteller, 1937–2006)

Ars amatoria – Liebeskunst (Ars amatoria Reclam, Publius Ovidius Naso, antiker römischer Dichter, 43 v. Chr.–17 n. Chr.)

Ich fand ihn, den meine Seele liebt. Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, / bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, / in die Kammer derer, die mich geboren hat. / Bei den Gazellen und Hirschen der Flur / beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, / weckt sie nicht, / bis es ihr selbst gefällt. (Hohelied Salomos, Die Bibel, Altes Testament)

Die Wollust bleibet doch der Zucker dieser Zeit / Was kan uns mehr / denn sie / den Lebenslauf versüssen? / Sie lässet trinckbar Gold in unsre Kehle fliessen / Und öffnet uns den Schatz beperlter Liebligkeit. (Die Wollust, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, schlesischer Dichter, 1616–1679)

Immer halt ich die Liebste begierig im Arme geschlossen, / Immer drängt sich mein Herz fest an den Busen ihr an, / Immer lehnet mein Haupt an ihren Knieen; ich blicke / Nach dem lieblichen Mund, ihr nach den Augen hinauf. (Hanswursts Hochzeit, sämtliche Gedichte, Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter, 1749–1832)

Als du das Vögeln lerntest, lehrt ich dich / So vögeln, daß du mich dabei vergaßest / und deine Lust von meinem Teller aßest / Als liebtest du die Liebe und nicht mich. (Das neunte Sonett, Gedichte, Bertolt Brecht, deutscher Dramatiker und Dichter, 1898–1956)

seht den lieben robinson / heimlich stiehlt er sich davon / hat schon gnug vom ziegenbraten / seht ihn nur zu boote waten / zu der nächsten insel fährt / robinson, wie sichs gehört. / hört nur, wie die paddel patschen / und die nassen segel klatschen. / eh der bleiche mond aufgeht / er am andren ufer steht / wo die menschenfresser sind / ei, das weiß doch jedes kind. / robinson, der hat’s nun fein: / handelt frisches fleisch sich ein! (Crusoe-Lied aus „allerleihrausch“, sämtliche Gedichte, H. C. Artmann, österreichischer Dichter, 1921–2000)

der bach das wirbeltier / schlaflose libellen / der unbehauste fisch / scherenwetzer krebs / brautschleier spinnweb / nahbald das kirchlein / pfaffenlos summend / die sonne zieht entlang / der trauring des sommers. (Sämtliche Gedichte, H. C. Artmann, österreichischer Dichter, 1921–2000)

Abendstern, / alles vereinst du wieder / was sich am strahlenden Tag verstreute / Du bringst das Schaf heim / Du bringst die Ziege heim / Nur die Tochter bringst Du / wenn es Abend wird / nicht zur Mutter zurück. Oder: Eros erschüttert mir bebend die Seele, / Wie der Sturm im Gebirge, der auf Eichen stürzt. (Abendstern und andere Gedichte, Lieder, Sappho, antike griechische Dichterin, zwischen 630 und 612 v. Chr.–570 v. Chr.)

ich werde in Ostia sein / ich werde dich dort erwarten / ich werde dich dort umarmen / ich werde deine Hände halten in Ostia / ich werde dort sein // in Ostia ist die Mündung des Tiber / des alten Flusses // ich werde in Ostia nicht sein / ich werde dich dort nicht erwarten / ich werde dich dort nicht umarmen / ich werde deine Hände nicht halten in Ostia / ich werde nicht dort sein // in Ostia ist die Mündung des Tiber / des alten Flusses. (Ostia wird dich erwarten in Gesammelte Gedichte, Friederike Mayröcker, österreichische Schriftstellerin, 1924–2021) 

Gwerful Mechain war eine walisische Dichterin des 15. Jahrhunderts. Sie ist für ihre erotischen Gedichte bekannt wie: To Her Husband for Beating Her und To the Vagina (Wordpress).

Sulpicia in Vivamus atque amemus – antike Liebesgedichte

Louise Labé war eine französische Autorin (1524–1566). 

Annette von Droste-Hülshoff war eine deutsche Schriftstellerin und Komponistin (1797–1848). 

Sarah Kirsch war eine deutsche Schriftstellerin (1935–2013). 

Gertrud Kolmar war eine deutsche Dichterin und Schriftstellerin (1894–1943). 

Paula Ludwig war eine österreichische Schriftstellerin und Malerin (1900–1974). 

Marie Luise Kaschnitz war eine deutsche Schriftstellerin und Dichterin (1901–1974). 

Christine Lavant war eine österreichische Schriftstellerin (1915–1973). 

Peter Rühmkorf war ein deutscher Dichter (1929–2008).

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